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© Dirk Burchard im Januar 2001 www.ryker.de/dirk/archiv/sylvin.html

Sylvin Rubinstein

Als Widerstandskämpfer gegen die nationalsozialistische Besatzung Polens und in Frauenkleidern war Sylvin Rubinstein sehr erfolgreich. Zuvor waren er und seine Zwillingsschwester Maria ein gefeiertes Flamenco-Tanzpaar in zahlreichen Revuen der Vorkriegszeit. Nichts und niemanden hat der heute 87 jährige Mann auf St.-Pauli jemals so geliebt, wie das Tanzen mit Maria, und tanzen mußte er dann allein.

Zum Flamenco muß man geboren sein, sagt Sylvin Rubinstein in der Küche seiner Wohnung und erwägt, in einem halben Jahr eine Truppe auszubilden und auf Tournee zu gehen. Dann steht er auf und zeigt, wie er das mit seiner Zwillingsschwester Maria als junger Mann bei der Litwinowa in der Balletschule in Riga gelernt hat und wie eine Flamenco-Tänzerin vorsichtig die Bühne beschreitet und im Finale zur Furie aufbraust. Rubinstein liebt seinen Beruf und erinnert sich gern, wie er und Maria als "Dolores & Imperio" die gefeierten Stars zahlreicher Varietées waren. Dann kam der Nationalsozialismus, und nach dem 2. Weltkrieg hat Rubinstein seine Schwester niemals wiedergesehen, die 1942 in Warschau zur Mutter nach Brody in Galizien aufgebrochen war. Dort sind sie als Kinder des russischen Offiziers Fürst Nikolai Pjetr Dodorow aufgewachsen, der als Christ die jüdische Tänzerin Rachel Rubinstein nicht heiraten durfte und während der Revolution erschossen wurde. Auch seine Mutter und seine Ehefrau Sala, die er wegen ihrer zwei unehelichen Kinder auf Bitten seiner Mutter geheiratet hatte, blieben verschollen und sind mit großer Sicherheit ermordet worden. Rubinstein hat sich zahlreiche Filme aus Konzentrationslagern angesehen, um sich darüber Gewißheit zu verschaffen, aber nur einmal ein anderes ihm bekanntes Gesicht gesehen.

Einer wie Rubinstein muß im Widerstand landen, engagierte sich im Warschauer Ghetto und geriet später fast beiläufig an Major Kurt Werner, der vor dem Krieg Grundschullehrer in Berlin-Kreuzberg war und sich 1942 entschied, für den britischen Geheimdienst zu arbeiten. Wenn es zum Beispiel darum ging, jüdische Kinder in Klostern zu verstecken, Papiere zu stehlen, die aus Jüdinnen Arierinnen machten, Waffen für den Widerstand oder Lebensmittel zu beschaffen und an Bedürftige weiterzuleiten, waren Rubinstein und Werner das perfekte Team. Maria Theresa Cordelli gehörte dabei zu seinen Glanzrollen: Rubinstein war schon öfter in Frauenkleider gestiegen war, wenn statt ihm und seiner Schwester zwei Tänzerinnen engagiert werden sollten, und als elegante italienische Journalistin begleitete er sehr viel unverdächtiger den Major als dies der jüdische Tänzer konnte. Kurt Werner wäre mit seiner Division in und um die Kleinstadt Krosno im Süden von Polen ohne den intelligenten und entschlossenen Juden an seiner Seite sicherlich nicht so erfolgreich gewesen, die Grauen des Kriegs zu mildern. Rubinstein ist auf seine Leistungen nicht einmal stolz. Er bezeichnet den lebensfrohen Kurt Werner als mein Vater, auf dessen kalten Balkon er oftmals wartete, wenn der lebensfrohe Major Damenbesuch empfing. Es entsteht der Eindruck, Rubinstein sei vielmehr die treibende Kraft in dieser Verbindung gewesen. Wenn er von dieser Zeit erzählt, scheint das selbstverständlich, daß man dagegen kämpfen mußte, als primitive Menschen über die NSDAP in Machtpositionen gelangt waren und sich als Schlächter austobten. Wie anders sollte man das Miterleben von Massenerschießungen ertragen, von Besatzern, die auf der Straße willkürlich Menschen niedersteckten, oder die Transporte in die Vernichtungslager? Das gescheiterte Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 fand Rubinstein zaghaft, er tut dann, als würde er ängstlich mit der Fußspitze eine Tasche mit einer Bombe vor sich herschieben und macht vor, wie gern er Hitler umarmt hätte, damit dieser mit ihm der Explosion nicht entrinnt. Solche beiläufigen Gesten zeigen Rubinsteins sicheres Entscheidungsvermögen. Er hat immer gewußt, wer fanatisch dem Nationalsozialismus anhing und wer zweifelte, und er sieht das noch heute oder findet das sehr schnell heraus.

Als zum Kriegsende in Berlin die Nazi-Flaggen auf den Bürgersteigen lagen, hat er die Hakenkreuze weggeschnitten und sich ein rotes Kleid für den Flamenco geschneidert. Rubinstein zog nach Hamburg und hat auf dem Kiez als Flamenco-Tänzerin gearbeitet, denn einen Tänzer wollte niemand einstellen, und eine Partnerin wie seine ermordete Zwillingsschwester konnte er sowieso nicht finden. Viele Männer haben sich in ihn verliebt, und besonders hartnäckig waren die kessen Väter: Da war zum Beispiel eine adelige Lesbe, die "Dolores" in der Garderobe ihre Liebe erklärte und auf Rubinsteins Einwand, er sei ein Mann, erwiderte: Spinn nicht rum, Mädchen. Bevor Zweifel aufkommen, spielt er seine Rolle, wie er die Kiezbesucher in Spendierlaune gebracht hat, diese keusche Tänzerin, die man zum Plaudern auf Drinks einladen konnte, die er statt zu trinken natürlich diskret entsorgen mußte. Und wer nicht geglaubt hat, daß Dolores ein Mann war, durfte auch für Bargeld mal unter ihren Rock schauen. Richtig geheuer war ihm sein Erfolg nicht. Dolores fuhr vom Varieté zur wenig entfernten Wohnung immer mit einem Taxi, um etwaigen Verehrern zu entkommen. Seine Kollegen meinten es nicht immer gut mit ihm, wollten sowieso niemals nach Dolores vor das Publikum oder zerschnitten in der Garderobe auch schonmal seine Kleider. Und peinlich ist ihm noch heute eine Geschichte, wie eine Frau Dolores fragte, ob sie verheiratet sei, und Rubinstein antwortete, sie ließe sich gerade scheiden, weil mein Mann mir immer in die Brust beißt. Als er dann die Plastikbrust aus dem Kleid hervorholte, fing die Frau vor Mitgefühl an zu weinen. Dolores mochte sich mit ihren Verehrer nicht einlassen und hat die Geschenke weiterverschenkt. Als Stripperin Dolorita im Moulin Rouge hat er über so manchen Liebesbrief mit den Barfrauen den Kopf geschüttelt. Und auch Sylvin Rubinstein blieb allein mit sich und seinen Erinnerungen an die Grauen des Krieges und die ermordete Schwester.

Rubinstein öffnet die Tasche seines Hemdes und holt eine kleine jüdische Tora heraus. In dieser Tasche an seiner Brust mag er einen deutschen Paß nicht tragen, und deshalb ist er heute staatenlos. Glücklich bin ich nicht geworden, sagt er und erwägt, Deutschland zu verlassen, in die Niederlande zum Beispiel, wo Juden willkommen sind. Die St.-Paulianer sind großartige Menschen, stellt er immerhin anerkennend fest und erzählt gar nicht viel vom Leben auf dem Kiez, nur daß er gern Menschen in Not beisteht, denn das hätten im 2. Weltkrieg auch viele für ihn getan. Aber seine neuerliche Popularität nervt ihn etwas - vor allem jene, die meinen, er sei mit der Veröffentlichung seiner Lebensgeschichte reich geworden:

Der Journalist Kuno Kruse hat sich nächtelang mit Rubinstein unterhalten und dessen Erlebnisse unter dem Titel Dolores & Imperio veröffentlicht. Ein Film ist geplant, aber die Hamburger Filmförderung hat Mittel schon zweimal verweigert. Ein Antrag in Nordrhein-Westfalen scheiterte an einem Mißverständnis, und nun hofft Kruse auf europäische Gelder für eine internationale Produktion. Er hat inzwischen Zeitzeugen ausfindig gemacht, zum Beispiel jemanden, der Granaten für den polnischen Widerstand fertigte und sich an einen langen dünnen Juden erinnnert, der ihm immer wieder Granaten abzuschwatzen versuchte. Eines Tages kam eine elegante Dame, neckte ihn, und es dauerte eine Weile, bis er bemerkte, daß es der lange dünne Jude war. Rubinstein hat Kruses Buch nicht gelesen, weil ihn seine Erinnerungen sowieso ständig beschäftigen, und wegen des Films plagen ihn viele Sorgen. Aber nachdem bereits Kruses Aufzeichnungen so viel Alltag des 2. Weltkrieg anschaulich gemacht haben und wie es einen Widerstandskämpfer auf den Kiez in Frauenkleidern verschlägt, würde ein Film umso wertvoller, um diese Selbstverständlichkeit zu erleben, wie Sylvin Rubinstein in seiner Wohnung auf St. Pauli zum Abschied erklärt: Man darf niemals Angst haben und muß seinen Kopf einsetzen, sonst verliert man den Verstand.

[Erschienen am 28. Februar 2001 in hinnerk 03/01
trotz Anfeindungen des Kulturredakteurs.
Das vereinbarte Honorar wurde niemals gezahlt.]


Nachtrag vom 22. Juni 2004

Er tanzte das Leben - Sylvin Rubinstein heißt ein Film, den ich heute im Abaton in Hamburg sah. Es hat mich sehr gefreut, daß dieser Film überhaupt noch zustandegekommen ist und das Leben des großartigsten Menschen dokumentiert, den ich in Hamburg am 15. Januar 2001 kennenlernen durfte. Niemand hat so nachhaltig mein Bild der deutschen Geschichten geprägt wie er, und ich spürte sofort, daß ich bei ihm um Wahrheit nicht kämpfen brauchte. Umso trauriger, im Begleittext zum Film zu lesen: Wir schämten uns für unsere Zweifel, als wir auf Zeitzeugen stießen, denn Sylvin Rubinstein hat es nicht nur verdient, daß man ihm glaubt, sondern vor allem, daß man aus seinen Erfahrungen lernt. Und deshalb empfand ich als rührendste Szene des Films, wie dieser alte Mann kleinen Kindern Flamenco beibringt.





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