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© Dirk Burchard im Mai 1998 www.ryker.de/dirk/archiv/kritischemasse.html

Die kritsche Masse

Die ehemalige Mauer zwischen den beiden deutschen Staaten nannte die DDR "Antifaschistischer Schutzwall". Man könnte im Westen heute meinen, man habe dies damals falsch verstanden, wenn da nicht jene Ostdeutschen wären, die genau die heutigen rechtsextremen Phänomene als vom Westen gebracht hinstellten. Es ist die Meisterleistung der politischen Klasse, die Einheit Deutschlands mit dem "Einigungsvertrag" als Teilung zementiert und die Menschen damit dauerhaft gespalten zu haben. Eine gesamtdeutsche Betrachtung des Rechtsrucks in der Politik wird damit unterbunden. Im Westen die soziale Sicherheit zu demontieren für den Aufbau Ost, wo die Mittel aber seltenst in Hände mit sozialer Kompetenz geraten, macht es der politischen Klasse allzu leicht, der jeweils eigenen Klientel die jeweils andere Seite als verantwortliche Urheber eines Mißstands hinzustellen. Und das Bild vom grausam kapitalistischen Westen brauchen im Osten gerade jene Ostdeutschen, die davon ablenken wollen, daß sie eben diese pervertierte Form des Kapitalismus verinnerlicht haben und schamlos praktizieren. Und das sind nicht wenige.

Wann aber ist jemand ein Faschist? Wenn er eine Glatze trägt oder sich in Männerbünden zusammenschließt? Doch wohl erst dann, wenn er oder sie für eine Staatsideologie eintritt, welche die Individualität des einzelnen Menschen verneint und diesen stattdessen unter vordefinierte Normen von etwa deutsch und undeutsch preßt. Nur die Idee oder die Handlung eines einzelnen kann also faschistisch sein, niemals eine Gruppe per se, was nicht heißt, daß Zusammenrottungen nicht gefährlich werden könnten. Es ist aber das linke Dilemma, daß man derartige Gruppen nicht allein repressiv ausgrenzen kann, wollte man nicht ihre Denkstrukturen übernehmen, sondern ihren einzelnen Mitgliedern gleichzeitig auch jede gesellschaftliche Partizipationsmöglichkeit offenhalten muß. Diese Großzügigkeit ist dem Erbe der Aufklärung geschuldet:"Ich teile zwar nicht ihre Meinung, aber ich werde mich dafür einsetzen, daß sie sie äußern dürfen." Diese Großzügigkeit ist im Grunde auch intellektuell arrogant und wirkt zersetzend, weil in rechtsextremen Gruppen regelmäßig niemand in der Lage ist, seinen Herdentrieb zu begründen und rechte Wortführer ebenso regelmäßig nicht begreifen, daß ihre Gefolgschaft nicht ihren Parolen, sondern vielmehr subtilen Empfindungen folgt.

Gegenüber der alten Bundesrepublik war es in der DDR vergleichsweise leicht, ein Antifaschist zu sein. Antifaschismus wurde staatlich verordnet und diente der Verehrung kommunistischer Widerstandskämpfer. Wer etwa in Wolfsburg den Aufbau des Volkswagenwerks mit Zwangsarbeitern thematisierte oder in Bremen die unrühmliche Rolle der dortigen Kaufleute in der Zeit des Kolonialismus hatte einen ungleich schweren Stand und mußte sich gegen einflußreiche und wirtschaftlich starke Kräfte mit seiner Meinung zur Wehr setzen. Es mag daher für manche Antifaschisten im Osten eine erschreckende Erfahrung sein, daß man mit dem Repetierenkönnen auswendiggelernter historischen Daten in privatem Kreis allein noch keinen Faschismus stoppt. Wer jemals die vorterroristischen Werke von Ulrike Marie Meinhoff aus den 60er Jahren gelesen oder diese Zeit selbst erlebt hat, dürfte wissen, um wieviel härter die minimale Aufarbeitung des Nationalsozialismus in West-Deutschland erstritten worden ist.

Daß nun in Sachsen-Anhalt die DVU ein zweistelliges Landtagswahlergebnis eingefahren hat, ärgert umso mehr, als die etablierten politischen Parteien nunmehr eine dumme Manövriermasse im Parlament als Faschisten vorführen können, die aber außer ein paar ausländerfeindlicher Parolen überhaupt kein politisches Gedankengut einbringt, folglich auch kaum ein faschistisches. Die DVU ist wenig mehr als eine PR-Aktion des Münchner Kaufmanns Frey, der sich nicht einmal die Mühe zu machen scheint, die von ihm verkaufte Deutschtümelei ideologisch und intellektuell zu untermauern. Tatsächlich unterscheidet sich das "Ausländer raus" der DVU wohl allenfalls in einer etwaigen Methode, kaum aber im Ergebnis vom "Deutschland ist kein Einwanderungsland" der CDU, dem sich die SPD bisher niemals ernsthaft verweigert hat. Darüberhinaus ist auch höchst fraglich, warum derartige Parolen faschistischer sein sollen als etwa der Ausverkauf des staatlichen Tafelsilbers an niemals entnazifizierte deutsche Großbanken und von ihnen kontrollierte Unternehmen. Seit unter dem Magdeburger Oberbürgermeister Willy Polte (SPD) die Städtischen Werke Magdeburg an die westdeutschen Energieversorger verkauft worden sind, kommen die Abrechnungen aus Dortmund, konfrontieren den einzelnen Kunden mit Gewinnmaximierung und schöpfen so den Haushalten in Magdeburg zusätzlich Kaufkraft ab. Oder nachdem unter dem Bremer Bürgermeister Klaus Wedemeier die Stadtwerke Bremen verkauft worden waren und dieser als Bürgermeister abgetreten war, brachte die VEBA, einer der Käufer, Wedemeier bei ihrer Tochter Vebacom in Düsseldorf unter. Absprachen dürfte es vorher nichtmal gegeben haben - man weiß in der Politik, daß derartige gefällige Entscheidungen belohnt werden und nimmt sie vielfach schon nicht mehr als solche wahr. In dieser Selbstverständlichkeit des Üblichen liegt die größte Gefahr.

Die Krise in Sachsen-Anhalt ist also eine Krise der etablierten Parteien. Würden sie im Landtag Sachthemen behandeln, in denen die intellektuelle Kompetenz der einzelnen Abgeordneten gefragt wäre, anstatt mit Parteienproporz den Machterhalt zu sichern, die Frey-Vasallen im Landtag wären schnell zerstritten, so wie seinerzeit die "Homosexuellenfrage" die Neonazis um den an AIDS verstorbenen Michael Kühnen gespalten hatte. Weder SPD noch CDU, PDS oder Bündnis90/Die GRÜNEN sind zu derartigen Auseinandersetzungen bereit. Letztere machen bereits ihren derartigen Ansatz von 5-Mark-pro-Liter-Benzin verantwortlich für ihr schlechtes Abschneiden bei der Landtagswahl, während sie als eine von der Anti-Atomkraft- und Friedendbewegung aufgebaute Partei nach Parteisäuberungen Ende der 80er Jahre kurz davor stehen, die Rüstungsindustrie als Wirtschaftsfaktor am Standort Deutschland zu preisen. Dabei ist das 5-Mark-pro-Liter-Benzin-Konzept bereits um seine umweltpolitisch sinnvollen Aspekte kastriert und zu einer Kapitalbeschaffung für Staat und "Arbeitgeber" verkommen. Die im Rahmen der grünen Parteisäuberungen in den 80ern aus der Partei geekelte Jutta Ditfurth mochte zwar eine manchmal anstrengend streitbare Persönlichkeit auch bei den GRÜNEN selbst gewesen sein, korrumpierbar war sie hingegen nicht, sondern konsequent und radikaldemokratisch. An Ingrid Köppe, die im ersten gesamtdeutschen Bundestag eine herausragende gesamtdeutsche (!) Aufarbeitung zum KoKo-Imperium des Alexander Schalck-Golodkowski versucht hatte, und die nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag mit abenteuerlichen Strafermittlungen und Hausdurchsuchungen für ihr Engagement verfolgt und diskriminiert sowie von Bündnis90/Die GRÜNEN unsolidarisch damit alleingelassen wurde, hat diese Partei auch im Osten ihre Unschuld längst verspielt. Diese Entwicklung eint zumindest gesamtdeutsch die realo-grüne politische Linke, der die PDS nunmehr nacheifert.

Wie nun soll sich ein gesamtdeutsches Konzept durchsetzen? Wo liegt die Vision, welche demokratischen Kräfte Deutschlands noch einen könnte? Gibt es eine solche Perspektive überhaupt? Oder wird Aldous Huxley recht behalten, der in "Schöne neue Welt" schon 1932 die Vision aufwarf, daß das Individuum allein im Selbstmord noch Freiheit finden könnte vor der verstaatlichten kollektiven Degenerierung?

Hauptursache für die soziale und politische Krisen bewirkende relative wirtschaftliche Rückständigkeit Ostdeutschlands gegenüber dem Westen bleibt zunächst der Nationalsozialismus, ohne den eine Teilung niemals herbeigeführt und zu überwinden gewesen wäre, dicht gefolgt aber von der nächsten historischen, diesmal allein west-deutschen Dummheit, der Wiederbewaffnung der 50er Jahre. Konrad Adenauer vereitelte damit Angebote der Sowjetunion zur Wiedervereinigung ungeprüft und zementierte so die Teilung. Der 17. Juni 1953 wurde danach Tag der deutschen Einheit, an dem die DDR einen Arbeiteraufstand niedergeschlagen hatte. Dieser hatte sich aber gegen "bürgerliche Reformen" der DDR und gegen die damit einhergehende Verschärfung der Arbeitsanforderungen für Arbeiter gewandt. Diese Reformen dienten sowjetischen Interessen an einem politisch neutralen Deutschland, zu dessen Errichtung man die Wiedervereinigung angeboten hatte. Im Westen wurde daher tatsächlich jener Tag als Tag der deutschen Eineit begangen, an dem die junge und ideologisch kaum gefestigte DDR aufgegeben hatte, durch Wiederanpassung an das System des Westens eine Wiedervereinigung herbeizuführen. Das angesichts ihrer schwachen wirtschaftlichen Position, ihrer zahlreichen Kriegsschäden sowie der Reparationsleistungen gegenüber der Sowjetunion für sie fatale Wettrüsten konnte die DDR so nicht verhindern.

Das ursprüngliche Grundgesetz war bis dahin eine pazifistische Verfassung, das der Bundesrepublik abverlangt hätte, ohne militärische Strukturen allein durch Diplomatie die friedliche Entwicklung in Europa voranzutreiben. Die Bundesrepublik wäre damit nach dem Vatikan der zweite Staat in der Welt gewesen, der seine Macht nicht auf zerstörerische Kampfmittel, sondern auf intellektuelle Werte stützt. Daß Konrad Adenauer diese Perspektive vereitelte, war ein wesentlicher Grund dafür, daß die Wiedervereinigung erst 1989 eingeleitet werden konnte, nachdem diese Polarisierung in Europa durch ein Umschwenken im Kreml, friedliche Demonstrationen der Menschen im Ostblock und zuletzt auch in der DDR überwunden worden war. Die Einrichtung der Bundeswehr hat also die Wiedervereinigung nachhaltig verzögert und erst die dauerhafte Spaltung der deutschen Staaten herbeigeführt. Wie damals Konrad Adenauer wußte Helmut Kohl zum Einigungsvertrag, daß diese Spaltung der Menschen in Ost und West die Herrschaft der Konservativen sichern würde. Und deshalb gibt es heute die alte Bundesrepublik und das "Beitrittsgebiet" ohne Gänsefüßchen, die gewachsene Demokratie auf der einen und die Demokratieschüler auf der anderen Seite.

Letztere haben sich in diese Rolle eingefügt, weil dies ohnehin dem deutschem Naturell entspricht und man in Ostdeutschland eine Regierung bevorzugt, über die man in privatem Kreis lamentieren kann ("Unter uns,..."), für die man letztlich aber auch keine Verantwortung zu tragen braucht. Dieses Kriterium hatte die DDR für ihre Bürger erfüllt, wenn man einmal von jenen Ausnahmen absieht, die genau dieses Verhalten im Gründungsaufruf des Neuen Forum kritisiert hatten. Und das war auch schon vor 170 Jahren nicht anders, wie man unschwer der Harzreise von Heinrich Heine entnehmen kann. Dieser schilderte seine ostdeutschen Kommilitonen in Göttingen als sich ausgelassen feiernde Gesellen, die ihre burschenschaftlichen Streitigkeiten ausfochten und zu fruchtbaren Auseinandersetzungen vollkommen ungeeignet waren. Noch viel weniger als die übrigens von Goethe befürwortete kleinliche preußische Zensur verstand Heine, wieso sich daran in Berlin niemand störte, was zeigt, daß die DDR Episode recht spurlos an den meisten ihrer Bürger vorübergegangen sein dürfte.

Im Westen ist mit der Wiedervereinigung die Sicherheit der Weiterentwicklung des Systems durch vergleichsweise offen gepflegte Streitkultur um Jahrzehnte zurückgeworfen worden, wofür geradezu beispielhaft die Entwicklung des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung stand, insoweit ihr Erstreiten Adenauers Wiederbewaffnung relativierte. Es war in der alten Bundesrepublik nach 1968 möglich, durch ständiges Arbeiten am allgemeinen Bewußtsein und Engagement, langsam aber stetig Verbesserungen herbeizuführen, den Staat als Mittel zur Verteilungsgerechtigkeit zu entwickeln. Heute werden derartige alltags-intellektuelle Strategien zum Widerstand häufig von Ostdeutschen hintertrieben. Dies geschieht eher subtil und unbewußt durch Nichtsehenwollen und -können von sozialen Mißständen. Als ostdeutsch gepriesener Gemeinsinn sichert oft nur sozial Höherstehende vor Gesichtsverlust und entpuppt sich häufig als Opportunismus und bauernschlaue Idee, man könne die Kalten Krieger täuschen und überrumpeln, während man tatsächlich mehr deren Position gegenüber ihren Kritikern stärkt. Dieser angebliche ostdeutsche Gemeinsinn entwickelt ebensolche Mitläuferpersönlichkeiten, wie jene, die die NDSAP "von innen" zu unterwandern vorgaben. Die Sicherheit des demokratischen Weiterkommens haben die ehemaligen DDR-Bürger den Westdeutschen vorerst genommen und erstmals als sie sich bei Helmut Kohl für den D-Mark-Regen aus der Staatskasse durch Stimmabgabe bedankt hatten. Dabei waren es in Deutschland immer Linke, die den DDR-Bürgern eine Entschädigung aus West-Deutschland für die westseits nicht erbrachten Reparationszahlungen zugestanden hatten. Wer heute vom "Notverkauf der DDR durch die Sowjetunion" redet, blendet diese Verantwortung der einzelnen im Osten aus, was selbst in linken ostdeutschen Publikationen, wie junge Welt, immer wieder zu lesen ist. Demnächst dürfte den neufünfländer Bürgern auch auffallen, daß sie diese selbstgewählte Art der Wiedervereinigung teuer durch eine Aufspaltung ihrer sozialen Strukturen bezahlt haben und daß nicht "die Wessis" diesen Unfrieden im Osten stifteten, sondern vielemehr jene Ostdeutschen, die sich mit Kalten Kriegern aus dem Westen verbündet und damit fortschrittliche Kräfte aus dem Westen ausgeblendet und ausgegrenzt haben. Nachdem sich zunächst die Dummdreisten mit den Dummdreisten verbrüdert und den wieder gesamtdeutschen Staat untereinander aufgeteilt haben, ist die Ausgangslage für die übrigen schwierig, das Aufeinanderzugehen mit Zweifeln schwergemacht und die Hoffnung auf einen verständnisvollen und charakterfesten Gegenüber oftmals erloschen. Nichtmal tatendurstige Frauen, wie Jutta Ditfurth und Ingrid Köppe gründen gemeinsam eine gesamtdeutsche Reformpartei, die noch Hoffnung auf eine gesamtdeutsche Perspektive mit diesem System wecken könnte.

Spannend bleibt also die Frage, ob mit dem Wegfall des "Antifaschistischen Schutzwalls" und der Wiedervereinigung die kritische Masse an Deutschen überschritten wurde, die unweigerlich Kettenreaktionen zur Wiedererrichtung des totalitären Faschismus in Deutschland in Gang setzen wird oder ob das System noch eine Perspektive zur Integration aller seiner Unterworfenen eröffnet, ob also Freiräume für jeden einzelnen noch haltbar und zurückzugewinnen sind. Am 18. Februar 1933, zwei Wochen nach Hitlers Machtantritt wurde in Leipzig, Erfurt und Magdeburg mit "Der Silbersee" von Georg Kaiser und Kurt Weill das letzte große Aufbäumen der deutschen Kulturbetriebe gegen den Nationalsozialismus und gegen die Entsolidarisierung in der Gesellschaft uraufgeführt. Georg Kaiser gab sich damals "unverzagt" und ließ das Stück im Finale enden mit: "Alles, was ist, ist beginnen und verliert sich noch hinter der Zeit, wie die Stunden der Nacht doch verrinnen, in den Anbruch der Helligkeit..." Das Ziel kann tatsächlich nur die geistige Erweckung jedes Individuums sein. Insofern möge die politische Linke den Einzug von dumpfen DVU-Protestgewählten in den Magdeburger Landtag durchaus als heilsamen Schock für die übrigen Parteien werten. Rechtsintellektuelle Ideologie bringt die DVU immerhin nicht ein und wird diese auch nicht hinter sich scharen. NPD und Republikaner wären gefährlicher. Auch sind Stammtischparolen ohnehin allgegenwärtig und im Alltag nicht mit einer 5-Prozent-Hürde auszugrenzen. Höppners SPD bleibt nur die Mobilisierung intellektueller Brillianz, um dümmlichen Zwischenrufen der DVU Einhalt zu gebieten und deren Abgeordnete ehrfürchtig und heftig kopfnickend zu professioneller Regierungsarbeit aufblicken zu lassen. Soll die SPD das doch mal versuchen und in Magdeburg für Bonn und Berlin üben...





[Gefaxt an die Redaktion von konkret - (040) 851 25 14 - am 1. Mai 1998 22:15 Uhr und niemals eine Antwort erhalten.]




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