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© Dirk Burchard im September 1998 www.ryker.de/dirk/archiv/heine-lsa.html

Mit Heinrich Heine in Sachsen-Anhalt

1968 war der große Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Vergißt man einmal all jene Wortführer, welche sich damals an die Spitze einer gesellschaftlichen Strömung drängelten, die dann zumeist zum Bosnien-Krieg zeigten, daß sie die Parolen, die sie einst brüllten, nicht begriffen haben, so bleibt festzustellen, daß 1968 der gesellschaftliche Druck zur Gestaltung der Rechtsordnung so stark war, daß ihm auszuweichen politisch unmöglich wurde. BaFöG-Gesetzgebung und eine liberale Hochschulpolitik eröffneten Bildungschancen für untere soziale Schichten, Willy Brandts Ost-Politik setzte sich von der Polarisierung des Kalten Kriegs ab, und die Friedens- und Anti-Atomkraftbewegung organisierten Druck von unten, welchen das System letztlich in der Partei Die GRÜNEN kanalisierte. Es begann 1968 eine Phase der sozialen Gestaltung, die vor 1933 in aller Welt als sehr deutsch gegolten hätte. Mit dem Radikalenerlaß der Ministerpräsidenten der Länder ließ ab 1972 dieser gesellschaftliche Schub bereits wieder deutlich nach, an den nur noch ein paar RAF-Aktivisten weiter glauben wollten.

Die jungen Jahre der Bundesrepublik bis 1968 waren von einer erfolgreichen Unterdrückung dieser Mechanismen geprägt. Die politische Linke versuchte sich in der Verhinderung des Schlimmsten und stritt gegen die Notstandsgesetzgebung, konnte die Wiederbewaffnung nicht verhindern und hatte mit einem besonderen Besatzungsphänomen zu kämpfen, der Anbiederung breiter Kreise der Bevölkerung an eine pervertierte Idee des amerikanischen Kapitalismus. Keinesfalls dürfte dieser von Amerikanern mit derart harten Ellenbogen ausgestaltet worden sein, wie das viele Bundesdeutsche Glauben machen wollten. Es dominierte ein verwilderter Kapitalismus, in dem die Täter sich und ihre Taten rechtfertigten, die sozialdarwinistische Ellenbogengesellschaft wäre von den amerikanischen Besatzern angeordnet.

Genauso darf man sich heute die ehemalige DDR-Gesellschaft in den neuen Bundesländern vorstellen: So mancher Einheitsgewinner suchte sich unter Westdeutschen Freunde vom Schlage des Kalten Kriegers, lebte auf Kosten von Charakterfesteren, die durch ihre Ausgrenzung zu Einheitsverlierern wurden, und dieser versuchte jenen und sich selbst auch noch einzureden, "DER Westen" habe die Ellenbogengesellschaft gebracht. Die Entsolidarisierung funktionierte perfekt, und die vom Einheitsvertrag festgeschriebene deutsch-deutsche Weiterspaltung in Demokratie und Demokratieschüler gab hierfür den Nährboden ab. Es ist vollkommen müßig, die Übernahme der Verwaltung durch West-Beamte zu geißeln, weil mit ihnen ebensoviele Besatzer wie Idealisten in den Osten gekommen sind, ebenso wie Willkürherrscher und Idealisten der DDR gleichermaßen abgelöst wurden, so man diese überhaupt absolut definieren kann. Auch ist ja der westdeutsche Arbeitsmarkt den Ostdeutschen nicht verschlossen geblieben. Inbesondere das Zusammentreffen westdeutscher Juristen aus allen alten Bundesländern hat sogar oftmals zu einer sachthemenbezogenen Konfliktbereitschaft im Osten geführt, die man in westseits gewachsenen Behördenfeindschaften lange suchen muß. Problematisch hingegen bleibt, daß westdeutsche Idealisten vielleicht fortschrittliche Entscheidungen treffen mögen, diesen aber im Osten oft nicht das Vertrauen entgegengebracht wird, das sie nach West-Maßstäben verdienten. Die Widersprüche des D-Mark-Systems hätten viele Ostdeutsche gern in Westdeutschland belassen.

Die DDR hatte bei der Teilung der Welt gegenüber der Bundesrepublik ein Übermaß an preußischer Kulturgeschichte abbekommen. Der Zentralismus der DDR war diesem vermutlich mehr geschuldet als dem staatstheoretisch kaum entwickelten Gedankengut eines Karl Marx. Auch war dieser Zentralismus in der UdSSR wohl mehr darauf zurückzuführen, daß mit der Idee des Kommunismus dort die Monarchie überwunden wurde, andere gesellschaftspolitische Konzepte dort also Anfang dieses Jahrhunderts gar nicht etabliert waren. Kommunismus soll für Lenin nicht mehr als Elektrifizierung und Industrialisierung des Agrarlandes Rußland gewesen sein, und Stalin war dann die vertraute feudale Herrschaftsausübung näher als das. Mit der Niederschlagung des Prager Frühlings haben die osteuropäischen sozialistischen Gesellschaftsformen 1968 ohnehin aufgehört, sich als Alternative zu entwickeln. Der seitdem fehlende Wettbewerb zweier Systeme mag vielleicht eine Ursache für die politische Stagnation im Westen insbesondere seit der abgewürgten Aufbruchstimmung der frühen 80er Jahre sein und insofern die Richtigkeit marktwirtschaftlicher Wettbewerbsideologie beweisen. Das Wesen preußischer Staatsführung und das Ergebnis von Elitebildung durch preußische Auslese kann man übrigens heute noch am besten dem 1844 in Hamburg erschienen "Deutschland. Ein Wintermärchen" von Heinrich Heine entnehmen. Der schrieb bei seiner Rückkehr aus dem französischen Exil über sein Wiedersehen mit preußischem Militär:

Noch immer das hölzern pedantische Volk,
Noch immer das hölzern pedantische Volk,
Noch immer ein rechter Winkel
In jeder Bewegung, und im Gesicht
Der eingefrorene Dünkel.
Sie stelzen noch immer so steif herum,
So kerzengrade geschniegelt,
Als hätten sie verschluckt den Stock,
Womit man sie einst geprügelt.
Ja, ganz verschwand die Fuchtel nie,
Sie tragen sie jetzt im Innern;
Das trauliche Du wird immer noch
An das alte Er erinnern.

Daß es im heutigen Neufünfland auch anders ging, stellten bereits die Anhaltiner unter Beweis. Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt war bedacht, einen Gegenentwurf zum preußischen Militärstaat zu gestalten mit niedrigen Abgaben, allgemeiner Schulbildung, Bauernbefreiung oder sozialer Sicherheit für Arbeiter. Dessau wurde Kulturhochburg mit freiheitlichem Verlagswesen, während in Berlin eine kleinliche Zensur wütete, zu der schon Heinrich Heine nicht begreifen konnte, daß sich daran in Berlin kaum jemand störte.

Derartige Sozialisation wirkt noch heute fort: Während in Dessau das Anhaltische Theater alljährlich seine Spielzeit mit einem öffentlichen Fest auf dem Theatervorplatz eröffnet, wurde das für 125 Millionen Mark renovierte Theater der Landeshauptstadt Magdeburg mit einer geschlossenen Veranstaltung wiedereröffnet und dazu in der Stadt plakatiert: "Jetzt haben wir das Theater". Man präsentierte diesem "wir" Richard Wagners historisch hochbelastete Oper "Die Meistersinger von Nürnberg", welche die Nationalsozialisten in die Theater gepeitscht hatten, um zu assoziieren, ihre Ideen seien zu neu, um anerkannt zu werden und würden sich noch als die besseren durchsetzen. Weder nationalsozialistische noch preußische Elitebildung war jedoch Wagners Thema, sondern das Streben des einzelnen nach seinem höchstpersönlichen Lebensweg, die Entfaltung seiner individuellen Fertigkeiten und daß allein darauf soziale und staatliche Gemeinschaft zu gründen ist. Heine hätte das gefallen.

Von derartigen Nuancen absehend, sind westdeutsche Zeitungen sich inzwischen einig, daß sich Rechtsextremismus im Osten insbesondere unter Jugendlichen von einer Protest- zur Alltagskultur gewandelt hat. Eine späte Erkenntnis, wenn man bedenkt, daß viele DDR-Bürgerrechtler zumeist schon mit der Währungsunion erkannt hatten, daß sie langfristig auf Opposition abonniert beiben würden. Weder DDR-Mitläufer noch Kalte Krieger aus dem Westen waren daran interessiert, diese Linksintellektuellen als Autoritäten anzuerkennen. Die Folge mußte ein allgemeines Abdriften nach recht sein, so daß in so manchen Jugendeinrichtungen in Brandenburg linke Jugendliche systematisch verdrängt, vorwiegend germanische Heldensagen thematisiert und Sozialarbeiter zu Kellnern degradiert worden sein sollen. Es dürfte also kein Zufall sein, daß die Bundesländer mit dem Preußenadler im Landeswappen (Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt) direkt vor Berlin die Statistik rechtsextremistischer Gewalttaten mit großem Abstand anführen.

Ein besonderes Problem in den neuen Bundesländern bleiben daher staatlich dezentralisierte soziale Strukturen. Zwar gibt es in Dessau eine Bürgerinitiative, die sich gegen die Abschaffung des Regierungspräsidiums Dessau und die Unterwerfung unter ein zentrales Landesverwaltungsamt wehrt, jedoch reicht dies nicht, um breite Teile der Bevölkerung und problematische Einzelfälle zu integrieren. Auch in den alten Bundesländern wurden dezentrale Strukturen lange Zeit wenig geschätzt: Während zB in Bremen die seit dem FDP-Innensenator Friedrich van Nispen ständige Stutzung von Betreuungsangeboten für Drogenabhängige zu einer Vereinzelung und Verrohung der Szene geführt hatte, zu einem Anstieg der Beschaffungskleinkriminalität, die mit kostenintensiver Polizei nicht zu unterbinden ist, wurde in Frankfurt mit der Errichtung öffentlicher Druckräume wieder Zugang zur Szene gefunden und Vertrauen gewonnen. Es werden darüber Ausstiegsangebote direkt in die Szene formuliert und Eskalationen vermieden. Im Osten hingegen werden Drogenprobleme offiziell totgeschwiegen und vordringlich repressiv "bekämpft" unter fast vollständiger Vernachlässigung der Prävention. Die politische Klasse bastelt so die Versager im angezettelten Wettstreit um ihr Wohlwollen, die doch nur Sündenböcke für phantasielose, vielleicht beckmesserische und autoritätsbejahende Politik sind. In Sachsen-Anhalt entwickeln sich derzeit in Halle, das als größte Stadt des Landes mit seiner Nähe zu Leipzig eine große Zahl Drogenabhängiger aufweist, gegen große Widerstände private Initiativen, die soziale Ausgrenzung Abhängiger zurückzudrängen. Ähnlich unterentwickelt sind auch andere Bereiche, wie die Betreuung HIV-Postiver oder Obdachloser, wobei es oftmals nichtmal an allgemeinem Problembewußtsein mangelt, sehr wohl aber an offiziellem. Nach außen kehren viele Ostdeutsche ein Pseudo-Malocher-Ideal, sich immer bereit gebend, sich unmündig zu verdingen und anderer Anforderungen zu erfüllen. Diesen Wettstreit gewinnen jene, die keine Verantwortung übernehmen und sich in Positionen drängen, in denen sie von anderen diese Einsatzbereitschaft fordern können. Der dementsprechende politische Druck auf die Bevölkerung ist groß. Man will "Investoren" in ein leistungsbereites, anständiges und sauberes Land locken und vernachlässigt dabei Eigeninitiative, welche bereits die Breuel'sche Treuhand-Privatisierung kleingehalten hatte. Überführung der Volkseigenen Betriebe in Genossenschaften und Arbeitnehmerbeteiligung war Birgit Breuels Idealprivartisierung gerade nicht.

Der Föderalismus wenigstens hat in den neuen Bundesländern Fuß gefaßt. Zuletzt hat mit dem Wahlslogan "Unser Land, unser Weg" Reinhard Höppner zur Emanzipation vom Partnerland Niedersachsen angesetzt, wenngleich noch nicht klar ist, was "unser Weg" nun sein soll. Diese Ziellosigkeit paßt gut zum Zusammengehen mit der PDS. Diese ist vielmehr eine Partei des Lamentierens gegen West-Überfremdung und verbeißt sich eher antifaschistisch in die DVU als wäre diese Regierungspartei als daß sie politische Alternativen formulieren würde. Die PDS ist daher tatsächlich ebenso ungefährlich wie langweilig und hat von Realo-GRÜNEN längst die Kompromißgeilheit ebenso übernommen, wie die Ausgrenzung politischer Visionäre. Jedoch etabliert sich manche politische Kultur im Osten nur langsam. Der umstrittene Sachsen Anhaltische CDU-Vorsitzende Karl-Heinz Daehre ist nicht nach dem Wahldesaster der CDU bei der Landtagswahl zurückgetreten, auch nicht zur Mordauftrags-Affäre um den Schatzmeister Wulfert und auch nicht nach einem gemeinsamen Termin mit dem Fraktionsvorsitzenden Bergner beim Parteichef Kohl in Bonn. Ein DVU-Parlamentarier umschrieb diese Mentalität in seiner Antwort auf die Frage, ob man sich nicht sorge, daß die DVU sich ebenso zerstreiten würde, wie in den westlichen Parlamenten, Ostdeutsche wären Steher und keine schlappen Wessis. Man muß schon um eine ernstzunehmende Opposition in Sachsen-Anhalt bangen, nachdem die DVU sich gerade im Landtag mit einer Kleinen Anfrage hervortat, ob Reinigungskräfte des Landtags als Mitarbeiter des Verfassungsschutzes tätig wären, und auch weil sozialer Druck von unten spärlich bleibt. Im Osten wird gern lamentiert und sich zurückgehalten wenn es ernst wird, noch mehr vielleicht als im Westen. In "Die Harzreise" polemisierte Heinrich Heine 1826 über deutsche Untertanentreue: "Andere Völker mögen gewandter sein und witziger und ergötzlicher, aber keines ist so treu wie das treue deutsche Volk." Daran hat sich wenig bis nichts geändert - auch nicht durch sozialistische Sonderausbildung.

Es bleibt eine besondere Ironie, daß man sich im Westen auf alternative Konzepte der sozialen Integration wird besinnen müssen, um rechtextreme Strukturen im Osten kleinzuhalten. Wenn Berlin demnächst Regierungssitz wird und als Bundeshauptstadt jene Molochwirkung entfaltet, mit der bereits der berliner SED-Feudalismus die übrige DDR ausgelaugt hatte, könnte die rechte Kultur aus dem Osten über die Hauptstadt in Richtung Westen schwappen. Im Gegensatz zu Rußland, wo ein großes Land für seine Metropole Moskau blutet, könnte die Bundesrepublik aber auf gefestigte föderale Strukturen setzen, die einem derartigen Zentralismus entgegenwirken. Lebendigen Föderalismus und soziale Integration sollten Deutsche den Russen vorleben bevor durch marx'sche Ideologie bereits an die Übernahme deutschen Gedankenguts gewöhnt, in diesem krisengebeutelten Land nun reaktionäre Kreise die Oberhand gewinnen und die "Lebensraumpolitik" entdecken könnten. Heine schrieb in "Die Harzreise" über "unsern allzugroßen Freund im Osten", daß dieser "in allmählicher Entfaltung sich in die Höhe hebt, in dieser Stellung lange ruht und plötzlich in die erschrecklichsten Sprünge ausbricht." Mit Heinrich Heine ist man also gut bedient, will man die gesamtdeutschen Befindlichkeiten des ausgehenden 20. Jahrhunderts begreifen. "Die Harzreise" und "Deutschland. Ein Wintermärchen" kosten als Ausgaben des Hamburger Lesehefte Verlags jeweils arbeitslosenfreundliche 2.40 DM. In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, daß das Anhaltische Theater in Dessau in den letzten Jahren zum alljährlichen Kurt-Weill-Fest mit Georg Kaisers "Der Silbersee" tapfer jenes Stück auf die Bühne gebracht hat, mit welchem 1933 Theater in Leipzig, Erfurt und Magdeburg zwei Wochen nach Hitlers Machtantritt Position gegen den Nationalsozialismus bezogen hatten. Zu solchen Anlässen ist's im Osten wirklich großartig...





[Gefaxt an die Redaktionen: Süddeutsche Zeitung - (089) 21 83 - 7 87 am 1. September 1998 20:01 Uhr (Absage erhalten), Frankfurter Rundschau - (069) 21 99 - 34 21 am 8. September 1998 17:16 Uhr (Absage erhalten) und DIE ZEIT - Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co - (040) 32 71 11 am 10. September 1998 20:25 Uhr (keine Reaktion).]




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